Was haben eigentlich Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay am 29.5.1953 auf dem Gipfel des damals noch Mount Everest genannten Chomolungma gedacht?
Ich vermute, sie haben, in die Weite des Himalaya blickend, sich schon Gedanken über den Abstieg gemacht. Für Bergsteiger ist das vorausschauende Vernunft.
Gänzlich frei von Abstiegsgedanken standen wir am 27.5.23 erst im Stadion, dann in der Nähe von Bierständen und schlussendlich auf dem Parkplatz und bangten, weinten und feierten. Wir feierten natürlich die Mannschaft, den Trainer, den Manager, aber wir feierten auch uns, das Glück Unioner zu sein, eine so schön anstrengende Saison erlebt haben zu dürfen. Das alles und noch so viel mehr stand da an diesem Frühsommerabend im Mai mit uns vor der Haupttribüne.
Auch im vierten Jahr ist die Bundesliga (ein Jahr Urlaub am Gesäßmuskel!) für jeden Unioner noch eine aufregende Sache, die für uns immer noch was Neues bereithielt, dank fehlender Corona-Auflagen durften wir überall mit allem hin, was das Gäste- und manchmal auch Heimkontigent hergab.
So waren wir endlich wieder mit voller Kapelle in Gelsenkirchen. Nach einem ein bisschen zu hoch ausgefallenen Sieg bewiesen einige Unioner, dass wir zwar gut verlieren können, aber beim Gut-Gewinnen noch etwas Entwicklungspotenzial haben. Aber vielleicht ist es eine Wirkung des süßen Giftes Erfolg, welches wie das Soma in Huxleys “Schöne neue Welt” wirkt und einen emotional abstumpft, so dass man zu Schmähungen neigt, über die wir selbst nicht erfreut wären. Vielleicht ist es auch nur eine Frage des Alters, das einem die Weisheit bringt, dass Glück und Erfolg eigentlich flüchtige Begleiter sind und deswegen dem weniger Erfolgreichen in Ruhe lässt. “Aber wer erst seit 10 Jahren zu Union geht, dem kommt das alles normal vor.” (kleinkeulige Paraphrasierung).
In Leverkusen und Freiburg konnten wir dann beweisen, dass uns das Gut-Verlieren-können nicht abhandengekommen ist. Always look on the bright side…
Nur kurze sieben Wochen führte Union die Tabelle der Bundesliga an, war insgesamt niemals schlechter als auf Fünf platziert. Hat dem Salzburger Konstrukt zweimal das Döschen verbeult. Ebenso der Tante aus Charlottenburg die erhofften sechs Punkte nicht gegönnt. Zuhause fast nichts zugelassen, was die ungläubige, aber nicht minder frohe Stimmung hätte trüben können. Beinahe mit der Gelassenheit eines buddhistischen Mönches gingen wir zu den Heimspielen. Was soll schon passieren. Mittendrin in diesem so irreal wirkenden Geschehen wir als Fanclub auf Probe, der einige gut organisierte gemeinsame Auswärtsfahrten hinbekommen hat. Auch wenn Braga, Malmö, Brüssel und Amsterdam herausragen, hat auch jede Bundesligafahrt ihre eigene, besondere Geschichte, die uns als Fanclub näher brachten. Wer nacheinander Kojen teilt, lernt sich eben auch auf andere Weise kennen. Aber wir haben uns auch außerhalb der Spieltage und des Fußballs engagiert. Die Unterstützung der Eisern-trotzt-Handicap-Fahrt nach Sinsheim als letzte Aktion hier beispielhaft herausgestellt.
So wundervoll wie unerwartet in seinem Erfolg unser Verein uns durch die Saison auch schweben ließ, genauso angespannt blicken wir alle nach vorn. Ende August Auslosung der CL-Gruppenphase, kurz davor die erste Hauptrunde im DFB-Pokal. Habt Ihr auch so ein schaliges Gefühl? Aber irgendwo in einer kleinen Ecke in meinem Innern, wohin sich Vernunft und Realitätssinn angesichts der letzten Jahre bockig zurückgezogen haben, piekt es dennoch und die Vernunft meldet Bedenken an, dass das alles nicht immer so weitergehen kann. Und ich bin versucht, der Vernunft zu erliegen. Säße jetzt Lawrence Fishburne vor mir und hielte mir eine blaue und eine rote Pille hin, zu entscheiden zwischen Realität oder Traum – DIE ROTE, DIE ROTE…