Kopfmachen in Elm

Oder: „In Rackwitz nur ohne Lok“

Der Orient-Express der Unioner

Eine Fahrt mit dem Sonderzug scheint in unserer effizienzgetriebenen Zeit der Anachronismus schlechthin zu sein. Gut, wegen eines ungefähr neunzigminütigen Ereignisses, Kosten und Mühen auf sich zu nehmen, quer durchs Land zu fahren, ist jetzt auch kein von ausschließlich rationalen Beweggründen inspiriertes Handeln. Zumal für die meisten von uns am Ende nicht Freude steht, sondern in aller Regel ein ernüchternder Blick auf die Realität.

Die Sonderzugfahrt ist, rein technisch gesehen, der Kulminationspunkt irrationalen Handelns. Zumindest muss es dem geneigten Nicht-Fußballfan so vorkommen. Denn von vornherein ist klar, die Fahrt dauert länger als die mit einem herkömmlichen ICE. Die Sitze haben in ihrem Dasein schon so manchen Arsch ertragen. Es scheppert und dröhnt, nicht nur aus diversen Boxen. Man fährt auf Nebengleisen, wartet auf vorbeirauschende moderne Personenzüge, donnernde Güterzüge und fügt sich in die Lücken des Fahrplan ein. Aber Sonderzugfahren ist auch, länger unterwegs zu sein als üblich, dafür mit Freunden und Partywagen. Es ist auch ein nostalgisches Zugerlebnis, quasi der Orient-Express des Unioners.

In den Abteilwagen kann man auf dem Gang rauchen, trinken, quatschen und den Leuten, die durch wollen, das Durchkommen beschwerlich machen. Es stört aber niemanden, weil diejenigen vermutlich einen Waggon weiter selbst auf dem Gang stehen. Die Musik stört in der Regel auch keinen, weil jeder in einer stadionvorbereitenden Lautstärke unterwegs ist. Das Beste ist aber die Tatsache, dass man die Fenster öffnen kann. So kann man beim Durchfahren diverser Orte, die dort leben Müssenden wissen lassen, dass man ihren Ort gerade mit der eigenen, wenn auch nur kurz währenden Anwesenheit adelt, zum Beispiel Erfurt.

Während ich mir im Gang am offenen Fenster den Fahrtwind um die Nase wehen lasse und mir irgendeine unbestimmte Zugfilmszene durch den Kopf blitzt, so dass es mich nicht verwundert hätte, wenn ein Belgier mit französischem Akzent hinter mir stehend um Durchlass knurren würde, schießen meine Gedanken irgendwie nicht nachzuvollziehend Kabolz.

Fünf Jahre zuvor und zwei Tage (für die Chronisten) waren wir in Freiburg zu Gast. Die Umstände der Anreise waren etwas widrig. Der geplante Sonderzug fiel aus, was angesichts der folgenden Wochen und Monate wohl ein Glück war, trotz der Niederlage. Und heute nun, an einem ähnlich frühlingshaftem Tag, die Metropole am Main mit einer ähnlichen sportlichen Ausgangssituation.

Nüscht erwarten, aber bis zum ersten Gegentreffer immer die Weltherrschaft anstreben

Die an einer seichten Stelle des Main gelegene größere Stadt durchfahren wir wie auf einer zu günstig gebuchten Stadtrundfahrt recht zügig. Am Bahnhof werden wir erwartet, nicht nur von Menschen, die uns wohlgesonnen sind und auf der Rückfahrt begleiten werden, sondern auch von einem Aufgebot hessischer Ordnungsmacht.

Statt eines Getränkes zur Begrüßung werden wir erstmal in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Diese strikte Fantrennung kann eigentlich nur quantitative Gründe haben. Die direkte Ankunft in Stadionnähe verhindert auch die heimischen Reserven einer beliebten Frankfurter Spezialität aufzufüllen. Nein, nicht Handkäs mit Musi – Mispelchen sind’s.

Vielleicht ist es auch gut so, hätten sie doch die Rückreise wahrscheinlich nicht überstanden, angesichts eines zum jetzigen Zeitpunkt noch unbekannten und nicht zu erwartenden Ergebnisses. Deswegen folgen wir der auf einem übergroßen, an einem Polizeiauto angebrachten Display stehenden unmissverständlichen Aufforderung “Bitte Folgen”. So laufen gut tausend Unioner singend durch den Stadtwald.

Es ist einer der ersten warmen Frühlingstage, nicht nur beinahe T-Shirt-Wetter, was dem Zeilenknecht noch zu einem kleinen Verhängnis werden wird. Um es nicht zu idyllisch werden zu lassen, schweben einige Flugzeuge in Richtung Flughafen. Am Ende werden wir an allen Eintrachtlern vorbei an den Gästeeingang geführt. Alle haben überlebt.

Die Einlasskontrollen am Stadion sind ähnlich intensiv wie die Kontrollen am EU-Tor am Flughafen, angesichts der vielen Beamten für Ordnung und Sicherheit ist es ein schöner Kontrapunkt. Wir sind nicht vollkommen unwillkommen. Nun gut, noch glaubense ja och, wir ham Punkte mitgebracht. Wenn es unter uns Realisten gäbe, dann die wahrscheinlich auch. Nur kurz währte diesmal die Erschütterung der Macht. Dann schlugen unsere Jedis zurück. Zwei Tore, eine mythische Grätsche von Trimmi und ein legendärer Freddie reichen uns.

Warten auf Freibier

Weil die Frankfurter wohl nicht so gut verlieren können wie wir, wurden wir zu unserer eigenen Sicherheit noch ein wenig festgehalten, um dann von unserer heutigen Leibgarde zum Bahnhof geführt zu werden. Die kleine Wartezeit sollten wir nutzen, um uns noch ein wenig zu verpflegen, so die Polizeisprecherin. Offensichtlich war das aber nicht so mit den Menschen in den Ständen verabredet, denn eine gute halbe Stunde nach Abpfiff und nur noch uns im Stadionumlauf waren die mehr auf Feierabend eingestellt als auf einen erneuten Ansturm. Die Forderung nach Freibier für alle wurde wohlwollend amüsiert aufgenommen und den Gesetzen des Marktes gehorchend abgelehnt. Bei soviel Nachfrage wird nüscht verschenkt.

Nach einer dreiviertel Stunde Wartezeit werden besonders die individuell angereisten Unioner langsam unruhig, weil diese für Frankfurt ungewöhnliche Verzögerung so manche Reiseplanung über Haufen zu werfen beginnt. An einem Tor werden sie aus dem abgesperrten Bereich gelassen, was offensichtlich nicht schnell genug geht, um die entstandene Nervosität abzubauen. Ein kurzes Gerangel in der Reihe führt zu einem Testerosonausstoß auf allen Seiten. Glücklicherweise beruhigt sich das wieder recht schnell. Es zeigt aber, dass manch gutgemeinte Sicherheitsmaßnahme zügig ins Gegenteil sich verkehren kann und wirft die Frage nach dem Sinn von Einschränkungen der Bewegungsfreiheit auf. Insbesondere wenn der Raum, in dem man sich aufhalten darf, von einem Tor begrenzt und nicht an die Menge der Wartenden angepasst wird.

Als das Tageslicht endlich genug verschwunden war, durften wir auf dem selben Weg zurück zum Bahnhof wie wir gekommen waren. Ein unebener Waldweg, der lediglich von dem vorausfahrenden Polizeiauto mit einem Flutlichtensemble so leidlich beleuchtet wird, ist angesichts der durch schiere Quantität anzunehmenden Vielfältigkeit der Bewegungsfähigkeiten der Menschen eigentlich eine Unverschämtheit. Denn dass auch Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu einem Fußballspiel fahren und sogar noch mit dem Sonderzug, ist nun nicht so völlig abwegig.

Aufgrund der kurzfristigen Einschätzung des Zeilenknechtes, dass es doch schon das oben erwähnte T-Shirt-Wetter sei und somit auf den Hoodie verzichtete, in dem sich die Fahrkarte für den Sonderzug befand, stand er in einer Reihe mit anderen Schusseln und sollte zu seinem Waggon begleitet werden. Leider entfiel das betreute Einsteigen, in dem Gewühle der siegestrunkener Unioner als der Sonderzug endlich am Bahnsteig hielt, verlor man uns aus den Augen. Ein wenig zu obrigkeitshörig, griff ich mir dennoch als erstes meinen Hoodie und fingerte die Fahrkarte heraus. Denn die würden ja sicher noch kontrollieren kommen, aber aus den Augen, aus dem Sinn.

Nun stand einer frohgelaunten Rückfahrt ja eigentlich nichts mehr im Wege. Der Vernünftige unter uns, der schon an einen Termin am nächsten Morgen dachte, zog es vor, liegend solang zu feiern, bis der Schlaf über ihn komme und er wohl gewiegt in Berlin erwacht. Wir andern standen wieder auf dem Gang, quatschten, tranken und kleckerten uns Getränke auf die nunmehrigen Glückstrikots. So glitt der Zug durch die Nacht bis zum erneuten Kopfmachen in Elm. Diesmal beleuchteten wir die Szene mit unserem Partylicht.

Fahrtrichtungswechsel mit Partylicht

Während die Lok von dem einen Ende des Zuges ans andere wechselte, was in der Bahnersprache „Kopfmachen“ bedeutet, waren wir uns sicher, dass in Frankfurt einige Eintrachtler sich auch nen Kopf machten, wie man denn nur gegen uns verlieren konnte. Irgendwann kam es mir so vor, dass dieser Wechsel länger dauerte als auf der Hinfahrt, aber Reden und Trinken verschiebt ja auch das Zeitempfinden. Ob es ein erstes Omen war, für das, was während dieser Fahrt noch geschehen wird, bleibt im Dunkel der Nacht bei Elm.

Um die erste Stunde des neuen Tages herum dünnte sich die Gangpartygang aus. Da ich nach einer angenehmen Plauderei über Torhüterqualitäten und warum Freddie der weltbeste und zugleich unterschätzteste ist, bin ich in ein intensives Zwiegespräch mit Morpheus versunken, deswegen entging mir der Anfang der Ereignisse, die sicher in die Geschichte der Sonderzugfahrten eingehen wird. Vermutlich wird es, wie bei allen epochalen Ereignissen, ein kleines, beinahe unscheinbares Geschehen gewesen sein. Ein Ruckeln, ein Blinzeln im Morgengrauen, ein kleiner Zettel auf einer Pressekonferenz…

Lukas ließ Jim Knopf zurück…

Wir waren wohl schon kurz vor oder um Leipzig herum, als die uns ziehende Lok dachte, in „Leipzig nur Lok“ und den Dienst versagte. Da wir natürlich nicht, wie zuvor in diesem Text behauptet, nur auf Nebengleisen dahin zuckelten, sondern auch auf der Hauptstrecke, wirkt sich so eine Arbeitsverweigerung schon fatal auf einen halbwegs reibungslosen Bahnbetrieb aus. So wurden wir wohl recht zügig von einer Havarielok von der Strecke geschoben – bis in den Bahnhofsbereich des Örtchens Rackwitz.

Die etwas abseitige Bedeutung von Rackwitz im Gespinst des deutschen Bahnnetzes zeigt die Tatsache, dass wir später drei Waggons im Inneren passieren mussten, um an das Ende des Bahnsteiges zu gelangen. Wohl wegen des fehlenden Ruckeln und Zuckeln des Zuges erwachten wir aus unserem Schlummer und erfuhren neben der Tatsache des Lokschadens auch gleich von der in Aussicht stehenden bzw. heranbrausenden Problemlösung in Gestalt einer Ersatzlok.

Lediglich drei Stunden Verzögerung klangen nach einer gut zu verschlafenden Wartezeit. Doch wie schon einer der großen Fußballphilosophen wusste, haste Stoffwechselendprodukt am Schuh, dann haste Stoffwechselendprodukt am Schuh. Ob die Ersatzlok einen Personen- / Wildschadens verursachte oder nur wegen eines solchen nicht mehr zu uns durchkam, ist nicht so ganz klar. Wir hoffen, dass es der Person / dem Tier entsprechend gut geht.

Jedenfalls war von weiteren Stunden(!) Wartezeit nun die Rede, was, kurz im Kopf überschlagen, bedeutete, eine Weiterfahrt ist erst in den Vormittagsstunden des sich aufhellenden Montag. In sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten wechselten wir vom Modus des duldsamen Ausharrens in den der eigenen Schicksalsgestaltung. Da mein verschlafener Kopf noch viel lieber ausharren wollte, bin ich sehr froh, dass die Gruppendynamik mir die Entscheidung abnahm.

Jetzt nicht mehr von liegen geblieben zu reden, wäre Bahnpropaganda. Nur die frühlingshaften Temperaturen verbieten einen weiteren, noch detaillierteren Vergleich mit dem Orient-Express. Aber liegengeblieben ist er auch – 1929, nur mit Schnee. Eine gewisse Agatha Ch. ließ sich davon übrigens zu einem leidlich erfolgreichen Kriminalroman inspirieren. Sechsundneunzig Jahre später wurden Zugverbindungen inklusive passender Anschlüsse herausgesucht, in die Abteile gerufen, wieder verworfen, weil Meldungen über gesperrte Strecken hereinkamen, dann doch wieder – am Ende verließen wir etwas übereilt den Zug.

Der einstige eisenbahnerische Glanz Rackwitz’ zeigt sich an noch zwei vorhandenen Bahnsteigen, von denen der eine aber ausreicht den Anforderungen des täglichen Bahnverkehrs gerecht zu werden und der andere für Liegenbleiber, wie uns genutzt werden kann. Wir sind nicht die einzigen und schon gar nicht die ersten, die ihr Schicksal nicht von einer steckengebliebenen Lok abhängig machen wollten. Das Fahrgastaufkommen zu dieser frühen Stunde haben wir bei dem einfahrenden Regio mit Sicherheit verzehnfacht.

So verlassen wir kurz vor fünf Uhr Rackwitz und lassen einen großen Haufen optimistischerer, oder zumindest festschlafender Unioner zurück. In Bitterfeld müssen wir umsteigen und füllen den Bahnsteig wieder so sehr, wie es wahrscheinlich seit dem Zusammenbruch der ostdeutschen Chemieindustrie nicht mehr der Fall war. Mit einem IC nach Rostock, den unsere Übermacht auch überrascht, geht es auf die letzte Etappe dieser am Ende kuriosen wie ereignisreichen Auswärtsfahrt, die im Sonderzug begann und in einem IC endete.

… und nahm ein Taxi

Während dieser Etappe erreicht uns die Nachricht, dass sich wohl der Lokführer mit einem Taxi aufgemacht hat, eine weitere Ersatzlok zu beschaffen. Das bestärkt uns noch mehr in der Ansicht, dass unsere Entscheidung, so früh den Liegengebliebenen zu verlassen, doch genau die richtige war. Die Geduldigsten sollen nach Erzählungen erst gegen Mittag in Berlin angekommen sein. Insofern waren wir mit acht Uhr doch ziemlich zeitig für einen Arbeitstag wieder da. Aber unser Mitgefühl gilt allen, die den Zug nicht so ohne weiteres verlassen konnten, weil sie zum ausführenden Personal gehörten.

Deswegen hier ein besonderer Dank an alle vom Virus, den Ordnern und dem fahrenden Personal vom Sonderzug. Wir sind zwar liegengeblieben, aber haben ja doch gewonnen.

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