Nach der kurzen, aber unangenehmen Auswärtsfahrt folgt sehr oft eine lange. Diesmal wieder gen Westen. Was auch sonst. Fahre solang’ Richtung Westen bis man was anderes spricht, biste dann da, drehste um und hältst in Gladbach an.
Zuerst aber steht man früh auf, zu früh, wie sich zeigen wird. Wenn man lediglich seine eigenen Annahmen bestätigt sehen will, dann ist man so fokussiert, dass man auch nur das sieht. So mir geschehen, dem eine Abfahrtszeit so um Dreiviertelsieben durch die Wolken seines Hirns wabert. Findet man die Zeit im Reisechannel bestätigt, so ist man nicht nur beruhigt, ob der eigenen Erinnerungsfähigkeiten, sondern unaufmerksam genug, die Änderung der Fahrtzeit zu überlesen. Zum Glück verschob sie sich nach hinten. Gute Gelegenheit für ein mehr oder minder ausgiebiges Frühstück im Hauptbahnhof.
Morgendliche Zeitungslektüre ohne Sport, nichts Sachliches soll die Zuversicht trüben. Auf Peggy … treffe ich als sie gemeinsam mit Jens an den traditionellen Treffpunkt Backwerk von ihrem Frühstückscafe aus heranschlenderte. So gesehen ist der Hauptbahnhof ja ein einziges großes Frühstückscafe mit zeitweilig angeschlossenem Bahnverkehr.
Zeitweilig war die Abfahrt auf Dreiviertelacht gesetzt, was nur der Anfang eines großzügig gesetzten Zeitrahmens ist, in dem man mit der Abfahrt rechnen kann. Wie man damit die empfohlenen “Erst fünf Minuten vor Abfahrt auf dem Bahnsteig sein”, wegen der zu hohen Fahrgastzahlen und zu schmalen Bahnsteige, durchsetzen will, wird ein Geheimnis der Bahn bleiben. Besonders wenn sich die verspätete Abfahrt mehrfach nach vorn und wieder nach hinten ändert. Es könnte sein, dass sich die Redewendung “Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln” in einer hauptstädtischen Bahnhofsvariante zu “Ruff uff’n Bahnsteig, runter von’ Bahnsteig” wandelt.
Mit gut 40 Minuten Verspätung vereinigt sich die grenzenlose Reisegruppe zu einem lustig daher schnatternden Haufen, der die missgünstige wie kleingeistige Aufmerksamkeit einiger Mitreisender auf sich zieht. Aber die Reinkarnation einer sowjetischen Gymnastiktrainerin, die jetzt als Zugbegleiterin bei der DB arbeitet, lenkt unsere Aufmerksamkeit mit der nötigen Strenge auf die Problematik. Da die Aussicht auf Arbeitslager niemanden aus der Gruppe verlockend genug erscheint um Widerstand zu proben, geben wir uns vernünftig einsichtig und drosseln zwar nicht unseren Unterhaltungsdrang, aber die akustische Ausbreitung unserer Playlist.
Wie hier nicht zum ersten Mal erwähnt, muss hinter allen Verspätungen, Ausfällen und sonstigen Störungen einer geplanten Reise ein großer, konzeptionell bis ins kleinste Detail ausgetüftelter Plan von besessenen Bahnfanatikern stecken. Denn sonst könnte man nicht, wegen des Ausfalls der S2 in Berlin den eigentlichen Zug verpassend und deswegen einen später nehmend, und den durch die Verspätungen der Vorausfahrenden veränderten Anschlusszug, der selbst noch mit einer fein abgestimmten Verzögerung in Hagen ankommt, sozusagen pünktlich erreichen um den Rest der Reise gemeinsam zu verbringen.
Vermutlich ähnlich wie Jason und die Argonauten oder Odysseus und die Seinen von den Göttern im Wettstreit durch ihr Schicksal getrieben wurden, sitzen zwei Eisenbahner, wahrscheinlich wegen der besseren Übersicht in einem der DB-Hochhäuser am Potsdamer Platz, vor einer detailgetreuen Modellbahn und einer versucht Reisende ans Ziel zu bekommen und der andere ist bemüht, das zu verhindern.
Zumindest hat der Verhindernde es erreicht, dass wir ziemlich knapp am Stadion ankommen. Denn, wenn man Rheydt Hauptbahnhof ankommt, der übrigens in seiner äußerlichen Verkommenheit aussieht, als sei er von einer der vielen stillgelegten Strecken Nordwestmecklenburgs an den Niederrhein teleportiert worden, dann ist man noch gar nicht angekommen. Es stehen Shuttle bereit und knapp dreißig Minuten Busfahrt uns bevor.
Durch Wiesen und Felder, statt Tälern und Seen fuhren wir durch Gewerbegebiete und Eigenheimsiedlungen um dann endlich an einem gewerbegebietartigem Gebäudekomplex mit einem halbfertig wirkenden Stadion anzukommen – bei den vermeintlichen Freunden. Die kleine Borussia war ja immer dieser nette Traditionsverein, dessen Glanz schon ein wenig stumpf daherkam, aber weniger lautsprecherisch als zum Beispiel der HSV war. Denen konnte man gönnen, die Rettung in der Relegation, die Renaissance in der Bundesliga, die Ausflüge nach Europa. Es war die respektgetragene Sympathie eines Fußballfans.
Nun aber wird seit einiger Zeit von Fans, wahrscheinlich beider Vereine, eine Fanfreundschaft propagiert, von der eigentlich alle wissen, dass es lediglich eine zwischen zwei Ultragruppen der jeweiligen Vereine ist. Weshalb sollte nun auch in mir eine innige Freundschaft für junge Pferde erblühen? Je mehr mir “…DIE FANFREUNDSCHAFT!” ins Ohr gebrüllt wird, desto mehr spüre ich diese Bockigkeit in mir und möchte zurückbrüllen: “Nee, nee, nee – Jeh wech mit die Sch*”. Mehr noch, ich merke wie mir das Gönnenkönnen vergeht. Spoiler: Etwas trauriger sind se mir lieber. F*ck sechundneunzigste und sonntägliche Karthasis.
Für sieben Euros auf einen Streich schnell noch Pommes und das, was die hier Currywurst nennen, holen, denn eine halbe Stunde vor Anpfiff fühlt sich das ausgiebige Frühstück vom Berliner Hauptbahnhof auch sehr gelogen an. Der Block ist schon recht gut gefüllt, der Unioner ist eben recht gern zeitig da. Drinnen geht es musikalisch zu wie bei den Festen der umliegenden Dörfer. Netterweise wird der Gästeblock davon beschallungstechnisch weitgehend verschont. Das ist wirklich sehr freundlich. Wahrscheinlich ist es ähnlich wie bei uns – es gibt die Hymne und Lieder, die nah dran sind, eine zu sein.
Auch bei den Fohlen ist das so und eigentlich auch ganz nett. Wogegen ich aber mittlerweile eine recht ausgeprägte Aversion entwickle, ist das Schalwedeln während der Hymne oder eben der Hymne naher Lieder, inklusive während der ohnehin unnötigen musikalischen Verschmutzung nach einem Tor. Jeder Anflug von einem erhabenen Gefühl der eigenen Bedeutung, so überhöht es auch sein mag, wird damit visuell der Lächerlichkeit preisgeben und in den Himmel über dem Stadion gefächelt. Gut, unsere Hymne oder Sporti geben es nicht so her, aber man stelle sich vor, wir würden bei Nina Hagen den Schal wedeln. Bei der Hymne wird der Schal hochgehalten, fertig ist die Kulisse, es soll schließlich auch ein Statement sein. Nunja, können eben nicht alle diesen Hang zu Stil und Lebensart haben.
Währenddessen hat das Spiel schon begonnen und unsere schwarz-anthrazit-gewandeten Mannen lassen, wie mittlerweile zu Spielbeginn wieder üblich, mal ein bisschen krachen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die erste taktische Idee ist, mit einem frühen Tor dem Gegner ordentlich Luft aus den Segeln zu nehmen. Wenn das klappt, siehe Hoffenheim, dann wird vorgeführt, wie gut unsere Abwehr ist, wenn alle mitmachen. Gelingt das nicht, dann gilt es die Null zu halten und darauf zu vertrauen, dass einer der etwas weniger häufigen Ausflüge erfolgreich ist. Pfosten. Schade, Yorbe! Sechsundneunzigste – fuck… Natürlich wird die Mannschaft für ein gutes, unglücklich verlorenes Spiel gefeiert und im Gegensatz zu den Fohlenhütern ist uns die Verkehrssituation egal, weswegen wir noch etwas länger im Block bleiben. Eisern Union! Eisern Union! Eisern Union!
Jetzt begeben wir uns auch wieder in die Welt aus Abfahrtszeiten, Verspätungen und Umstiegen. Die Moderne bietet Möglichkeiten, die uns früher nicht gegeben waren, so geben wir im Bus auf Empfehlung eines aufmerksamen Borussen eine größere Bestellung von Falafel-Dürüms auf. Einzige Schwierigkeit sind die Öffnungszeiten, die hier im Niederrheinischen kürzer sind als im heimatlichen Berlin, wo man nicht nur theoretisch den ganzen Tag lang etwas zu essen kaufen kann. Dass der Dürüm wirklich hielt, was uns versprochen wurde, verrate ich noch. Ob der Laden vom Hauptbahnhof Rheydt aus fußläufig zu erreichen ist? Nein. Was wäre es dann noch für ein Geheimtipp. Wir wollen ja nächstes Jahr nicht zwanzig Minuten anstehen.
Auf dem Weg nach Wuppertal, unserem diesmaligen Umsteigebahnhof, das sich hauptsächlich von Hagen dadurch unterscheidet, dass es eine Schwebebahn hat, setzen wir uns in für die Rückfahrt gebuchte 1.Klasse. Wir breiten uns in dem leeren Zugteil aus. Das erregt die Aufmerksamkeit des Zugchefes. Freundlich weist er uns auf die Tatsache hin, dass das hier die erste Klasse sei. Wir erwidern ebenso freundlich, dass wir als Erstligisten natürlich nur first class reisen würden. Und wir strahlen dabei so eine Überzeugung aus, dass er zwar sein Erstaunen darüber nicht verbergen kann, aber auf eine Bestätigung durch Ticketkontrolle verzichtet.
Unser Auftauchen in der ersten Klasse des ICEs hat im ersten Moment sicher nicht nur Begeisterung ausgelöst. Aber unsere leise vor sich hin playlistende Box und die Tiefe unserer Gespräche lassen eine freundlich muntere Atmosphäre entstehen, für die wir eigentlich Bonuspunkte bekommen sollten. Der Samstagspieltag hat sich schon ordentlich in den Sonntag verabschiedet, als wir wieder in Berlin ankommen. Rund 22 Stunden unterwegs sein ist ein ordentlicher Beweis für eine lange Auswärtsfahrt. Die nicht nur charakterlich, sondern auch physisch Stabileren unserer Reisegruppe gehen gefühlt nur Minuten nach der Rückkehr zum Spiel unserer Frauen und werden mit einem Union-immer-dreinull belohnt.