Die Krise, die aus der Weser kam

Von der heilenden Kraft der Gruppenfahrt

Jans? Check! Boom? Check! Jeschmückt? Die Eenen so, die Andern so… Allet für’n Kartoffelsalat? Jepp! Auswärtsspiel? Muss ja. Und so fahren wir zu frühestmöglicher Stunde an einem der typisch milden Vorweihnachtswochenenden in die westlichste der deutschen Städte, die sich noch heute auf die Hanse beziehen. Bremen, die kleine, flauschige Stadt, die als Bundesland daherkommt. Und damit man nicht ständig wie das Saarland als Bezugsgröße herhalten muss, hat man sich das etwas abseits an der Nordsee gelegene Bremerhaven dazu genommen.

Obendrein hat man mit dieser Exklave auch dem weiter östlich gelegenen selbsternannten “Tor zur Welt” eine Meeresküste mit Hafen voraus. Neben Kohl und Pinkel, Labskaus und Bremer Küken, alles Gerichte, die sich irgendwie einer Crossover-Modernisierung zu verweigern scheinen, ist Bremen noch für den ersten entkoffeinierten Kaffee (Kaffee HAG) und dem ersten Kakaopulver (Kaba) verantwortlich. Manches Westpaket wäre ohne diese Innovationen leerer gewesen. Die Leute sind nett, dass man nicht mal richtig meckern kann. Man wird ganztägig angemoint.

Für die im aktuellen Winterfahrplan eingeführten zusätzlichen Direktverbindungen haben wir zu früh gebucht, so fahren wir erstmal bis Hannover, offensichtlich dem Umsteigekreuz Norddeutschlands. Für einen wirklich frühen Frühschoppen ist aber Zeit genug. Es geht fröhlich und luftig zu. Und eine beschwingte Zuversicht umspielt all unsere Gedanken.

Verwunderlicherweise sind mit uns im Zug auch recht viele Charlottenburger eingestiegen. Niemand hat spontan den Spielplan der zweiten Liga im Kopf. Aber die Überraschung wird noch größer als wir feststellen, dass Hertha erst am Sonntag in Hannover spielt. Was treibt also Herthaner einen Tag früher in die Landeshauptstadt Niedersachsens? Niemand verweilt dort doch länger als er muss? Wir fragen nach und zu unserer Erleichterung haben auch Herthaner keine tiefere Affinität für Hannover, sondern die Fanfreundschaft schlechthin treibt sie in aller Herrgottsfrühe in einen Zug mit Unionern. Nur um am Mittag im pittoresken Paderborn dem Spiel der Heimmannschaft gegen Karlsruh, Karlsruh… zu beizuwohnen.

Nach diesem allen Respekt abverlangenden Verhalten müssen neue, höhere Maßstäbe für Fanfreundschaften gelten. Wir, Unioner wussten es ja schon aus unseren Zweitligajahren, dass Herthaner zu uns kamen, wenn der KSC bei uns zu Gast war, um den Gästeblock aufzufüllen. Aber das war in derselben Stadt. Also, sich bei gemeinsamen Spielen mit Bannern gegenseitig zu grüßen, ist eine nette Geste, aber bestenfalls auf dem Niveau des gegenseitigen morgendlichen Grüßens im Hausflur. Nach Paderborn zu fahren, ist die ultimative Benchmark für Fanfreundschaften und dass man es seit 4 Jahrzehnten macht. Schlussendlich gibt es wohl weltweit nur diese eine zwischen denen aus Karlsruh, Karlsruh… und den Herthanern. Alles andere sind temporäre Sympathien einzelner.

In der Stadt an der Leine warten wir nur kurz auf unseren Regionalzug, einem RE1(!). Die Mitnahme von Fahrrädern ist im niedersächsisch ländlichen Raum offensichtlich eine größere als in Berlin und seinem Branden-/Mecklenburgischen Umland, denn einige Zuguntergeschosse sind komplett sitzplatzbefreit. Was NutzerInnen von kraftumformenden Geräten genügend Platz für ihre Gefährte verschafft, verführt uns, zu einem Rückfall in die bei jedem von uns unterschiedlich weit entfernte Jugend. Wir sitzen auf dem noch recht sauberen Boden und bechern die nächsten Getränke. Auch die Musik ist angenehm. Junge Väter tanzen dazu mit ihren Lütten (Achtung! Topografisch-dialektische Anbiederung) auf dem Arm.

Aber die Liebe zur Regeltreue ist im bäuerlich geprägten ländlichen Raum stärker verankert als in unserer Schönen Stadt. Und in guter Block… äh Zugwart-Manier wird ebenjener auf seines Vaters Arm schlummernde Lütte als moralinsaueres Argument für Empörung wegen der akustischen Belästigung ins Feld geführt. Als dies nicht verfängt, auch weil das eigene Gestörtsein anderen ebenfalls zu unterstellen und als Jeanne d’Arc des Regionalzuges auf die Edelstahlgeländer zu springen, nicht die erhoffte Massenwirksamkeit erzielt, werden wir auf ein Piktogram hingewiesen, dass Alkohol im Zug grundsätzlich verbietet. Wir sind nur gering reuemütig und offenbaren uns gegenseitig eine ausgeprägte Piktogramleseschwäche.

In Bremen angekommen, verstauen wir alles von Getränken bis hin zu feuerzeuggroßen Gegenständen in einem gut gelegenen Gepäckfach, zeitweilig inklusive von Eintrittskarten. Denn der SV aus Bremen bietet ganz oldschool auf Karton gedruckte analoge Tickets an. Was aber, neben romantisch-haptischen Erlebnissen, eben dazu führt, dass ein digitaler Ausweg nicht zur Verfügung steht.

Die Suche nach einem gemeinsamen Mittagstisch gestaltet sich schwieriger als wir ahnten. Hatten wir doch eine uns schon bekannte Restauration für warme Tellergerichte im Sinn, nur um, als wir sie auch wieder im Blick hatten, festzustellen, dass offensichtlich die Öffnungszeiten geändert wurden, die mit der samstäglichen Anstoßzeit nicht harmoniert. So teilt sich der hungrige Haufen in die, die sich den weihnachtlich inspirierten Straßenverkäufern anvertrauen und in die, die konservativ in einem ganzjährig arbeitenden Restaurant, ihre kulinarische Bedürfnisse zu befriedigen suchen. Die Streetfoodaficionados haben mit Sicherheit kulinarisch die bessere Wahl getroffen. Das kann auch ein Sitzplatz im Warmen nicht wettmachen.

Mit der Straßenbahn geht es zum Stadion hinterm Deich. Auf der Fahrt dahin gibt es einige Lehrminuten in Sachen Fußballphilosophie. Wo wir UnionerInnen, trotz der Union-immer-dreinull-Prämisse, ein auch durchaus unverdientes Eins zu Null präferieren, kann der durchschnittliche Werderfan sein Herz für ein turbulentes Fünf zu Vier erwärmen. Wir nennen sowas abfällig Freakspiel, auch weil diese meist dazu neigen zu unseren Ungunsten auszugehen. Aber heute würde es ja enger sein. Was waren wir zu diesem Zeitpunkt noch naiv.

Der neue Einlass ist räumlich etwas größer, auch wenn sie das Prinzip der gestaffelten Vereinzelung beibehalten haben, was immer zu komischen Streßsituationen führt, weil man plötzlich wieder ganz hinten steht, wo man doch grad ganz vorn stehend durchgelassen wurde.

Die Sicht im Block hat sich deutlich verbessert. Eine weitere Bremer Eigenart ist aber auch geblieben. Auch diesmal gab es wieder Durchsagen, wir sollten weiter in die Reihen gehen, weil noch viele Gästefans draußen stünden. Nun sind wir als Unioner nun wirklich Stehplatzblock erfahren, und gefühlt hatten wir schon annähernd Förstereidichte. Anscheinend wird in Bremen ein anderer Quotient für die Mengenberechnung des Blocks benutzt, als bei uns. Oder der durchschnittliche zum Hedonismus neigende Unioner, bringt grundsätzlich einen größeren Körperumfang mit.

Wie wahrscheinlich einst die Torfstecher, die sich unweit von Bremen in Worpswede ansiedelnden KünstlerInnen betrachtet haben werden, begleiteten die Unioner auf dem Platz das Geschehen. Berichte, dass sich der Bremer Torwart in ebenjenem Torfstechen geübt haben soll – aus purer Langeweile, müssen sehr weit ins Reich der Übertreibung verwiesen werden. Ein bisschen zu tun bekam er schon. Nichtsdestotrotz lief es nicht so gut, wie noch in der Straßenbahn erhofft. Ein durchaus unverdientes Eins zu Null war nicht mehr drin, da unsere Mannschaft sich als verspäteter Nikolaus erwies und einige Geschenke verteilte.

Den geschafften Anschluss verpassten wir dann doch noch. Und am Ende war so deutlich, dass wir alle die unguten Erinnerungen an die letzte Saison nicht so einfach aus unseren Gedanken wischen konnten. Der Szene schien es ähnlich zu gehen. Wir verabschiedeten die Mannschaft dennoch mit dem traditionellen “Eisern Union”.

Wir verließen etwas bedröpelt das Stadion. Unschlüssig, was wir von dem erlebten Debakel halten sollen, verabschieden wir uns mit ausgiebigen Weihnachtswünschen von unseren individuell Reisenden. Denn, das ist weniger bekannt als man vermuten würde, liegt Bremen auf dem direkten Weg nach Marburg, wenn man aus Berlin kommt.

An der Deichunterführung stimmen die mit uns laufenden recht fröhlichen Werderaner eine Ode auf den HSV an. Was uns Unioner dazu veranlasst, ihnen zu zeigen, wie ein anständiger Unterbrückengesang schallern muss…”Dydy, dydydyyyy….”

Auf dem Rückweg zum Bahnhof, wir geniessen einen feinen Nieselregen und laufen die Strecke. Das freut zum Einen all die lebentrackenden Sensoren unserer maschinellen Begleiter, zum Anderen ist die Straßenbahn, von Autos umzingelt, nicht schneller. Die Sorge, nicht rechtzeitig am Bahnhof anzukommen, ist eine vollkommen substanzlose. Denn der Regio nach Hannover hat selbstverständlich Verspätung. Uns bleibt mehr Zeit als nötig, den Reiseproviant aufzufüllen.

Solche Verspätungen führen leider dazu, dass sich eine Menge an Fahrgästen ansammelt, die sich bei Pünktlichkeit auf mehrere Züge verteilt hätten. So bleibt uns die erste Klasse im Regio aufgrund der Zugfülle verwehrt. Kein Schaffner, der erstaunt, ob der Tatsache, dass Fußballreisende erste Klasse fahren, vergisst die Tickets zu kontrollieren. Über den ganzen Zug verteilt, haben die einen Spaß mit “Fußball, Fußball!”-Rufen zu jedem passenden wie unpassenden Anlass. Wir anderen haben Spaß mit den Tücken der sich auf Knopfdruck öffnenden und schließenden Tür am rolligerechten Zugklo.

Der eigentlich angenehme Zustand des belustigten Zuschauers wird kurz vor Hannover von einem Werderaner zerstört, der uns, zugegeben sehr höflich und anscheinend wirklich interessiert, zu Feuerzeugen und deren ballistischen Flugkurven befragt. Ach herrje, da war ja noch was. Mann, kann er sich nicht einfach über vier Tore freuen? Stattdessen kommt er uns mit der Realität. Niemand braucht Realität.

Im ICE nach Berlin teilen wir uns auf – erste Klasse ist eben nie ganz ausgebucht. Im Ruheabteil schlummern einige den Nachtschlaf vor. Die anderen füllen die Playlist, schwadronieren über alles, nur kaum über den erlebten Tag. Fansein bedeutet immer auch ein wenig Realitätsverweigerung. Mag es auch noch so finster sein, ist das ja kein Grund, die Zuversicht für das nächste Mal zu verlieren. Egal, wie wir die Rückfahrt zubrachten, in Berlin angekommen, ist der Stich der Krise nicht mehr so stark. Gemeinsame Rückfahrten bei Niederlagen sind fast immer therapeutisch.

So verabschieden wir uns alle ziemlich froher Stimmung bis Montag. Das Weihnachtssingen löscht bekanntlich fast alle Trübsal aus.

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