Von weiten Wegen ist hier oft die Rede und wie sehr das Reiseglück von den Geschicken der Bahn beeinflusst wird. Der weiteste, geografisch wie sportlich, lag an diesem winterfahlen Samstagmorgen vor uns. Dem Morgengrauen voraus fuhren wir auf verschiedene Züge verteilt, getreu dem Motto, wenn einer durchkommt, dann ist es kein Totalausfall, ins Badische, in den Breisgau – na, jedenfalls nach janz weit unten.
Nach dem Bahnstreik ist vor der Bahnstörung. An diesem Wochenende war es wohl die Oberleitungsstörung. Bis Mannheim wurde man noch in Sicherheit gewogen: Der sehr knapp erscheinende Zeitraum von sechs Minuten für das Erreichen des Anschlusszuges vergrößerte sich um die Hälfte, weil der Zug drei Minuten früher in Mannheim ankam. In der Rückschau nahm das Missgeschick aber wahrscheinlich hier schon seinen Anfang. Wegen einer fehlenden Sitzplatzreservierung war das Vorhaben die letzten 90 Minuten der Reise im Bordbistro zu zubringen ein Gutes. Und es gelang. Meinen koffeinentleerten Blick richtig deutend bot mir die Dame hinter dem Tresen einen Kaffee mit den Worten an, “ Wenn Sie Kaffee möchten, dann nehmen Sie sich lieber gleich einen, ich habe nur diese drei Thermoskannen hier. Wir haben hier keinen Strom und können nicht kochen.” Was mir noch nur wie ein nettes Angebot vorkam, hätte mir zugleich auch Vorwarnung sein sollen.
Mit einem Becher Kaffee bewaffnet im Bistro sitzend, starre ich in die vorbeifliegende Landschaft und schlürfe mir morgendliche Frische in den Kopf. Ein Prunkbau zu Gottes Ehren hier, ein weiterer da, Baumgruppen auf kleinen Hügeln, widerborstige Schneeflecken kommen kurz in den Blick und entschwinden wieder. So passieren wir mit kurzem Halt Karlsruh, Karlsruh… und während ich noch überlege, ob es sich lohnt für die letzte halbe Stunde sich einen weiteren Becher Kaffee zu holen, muss es während des Haltes in Offenburg, für uns im Zug nicht spürbar, wohl einen Knall mit Rauchentwicklung gegeben haben.
Jetzt folgt eine kleine Chronologie einer Zugentleerung. Als erstes wird eine Störung an der Oberleitung durchgesagt. Mir geht ein kleines „O Gott“ durch’s halbwache Hirn, hab ich doch vor kurzem grad einen Podcast von der Oberleitungsstörung im Sommer gehört, wo die Leute 24 Stunden im Zug fest sassen. Zumindest sind wir in einem Bahnhof. Die Zugbegleiterinnen ziehen betont gelassen dicke Jacken an. Es wird gewalkietalkt. Aus der anfänglichen Viertelstunde Verspätung wird sprunghaft eine dreiviertel Stunde. Im Moment dieser wenig hoffnungverheißenden Durchsage gehen im Bistrowagen die Lichter und Displays aus. Hmmmm… Wir werden aufgefordert, der eigenen Sicherheit wegen, den Zug nicht zu verlassen. Hmmmmmmmm… Binnen fünf Minuten kühlt der Zug spürbar aus.
Durchsagen gehen irgendwie noch – so hören wir, dass der Zug jetzt evakuiert wird und die Reisenden aus Wagen 29 sollen bis Wagen 25 vorlaufen und dort aussteigen. Draußen werden wir aufgefordert, den Bahnsteig zu verlassen und auf den Nachbarbahnsteig zu wechseln. Zur eigenen Sicherheit. Was hier noch wie koordiniertes Handeln anmutet, offenbart sich schon am Ende der Treppe als Ahnungslosigkeit. Zumindest als eine der örtlichen Gegebenheiten, denn das untere Ende dieses Abganges ist mit einem rotweißen (wenigstens etwas Erfreuliches) Flatterband abgesperrt. Die allgemein gültige Bedeutung dieser Art Bänder missachtend, brechen die ersten Reisenden, lautstark im Streichschen Idiom redend, von einem Anflug von Revoluzzertum getragen, durch diese Sperre.
Nun, Rastatt ist lediglich fünfzig Kilometer von Offenburg entfernt, da hat eine gewisse Obrigkeitsmissachtung Tradition. Mehr als… na, ihr wisst schon. Auf dem anderen Bahnsteig steht schon Uli P. und telefoniert. Wahrscheinlich hat er sich nicht über die Anzahl der Frederiks in der dänischen Thronfolge informiert. Dort steht ebenfalls ein ICE mit Ziel Kiel, dem es offenkundig auch etwas an Spannung fehlt. Die bahnbadische Obrigkeit in Gestalt der DB-Sicherheit ist genauso gut informiert wie wir Evakuierten.
Während ich die Behebung der Ahnungslosigkeit des Personals nutze, um die Sanitäreinrichtungen des Bahnhofs Offenburg zu testen, ist wohl der Notfallmanager unterwegs zu uns Gestrandeten. Was seine Aufgabe ist, wird im Dunkel dieser Geschichte bleiben, ob er sich des technischen Problems oder lediglich seelsorgerisch der Reisenden annimmt, werde ich nicht erfahren. Denn auf dem dritten Bahnsteig steht am hinteren Ende ein RE mit einem funktionierenden Fahrtzieldisplay. STROM! Und das Beste: Basel Bad. Bf. strahlt in einem warmgelben Farbton ins graue Einerlei dieses Januarsamstages.
Betont gelassen schlendere ich die Treppe hinunter. In dem gar nicht so vollen Zug gibt es noch einen angenehmen Stehplatz in Türnähe. So zuckel’ ich Freiburg entgegen. Währenddessen sitzt die zweite Reisegruppe dreißig Kilometer zurück in Achern fest. Denn so ein Stromausfall wirkt wie eine Thrombose, es staut sich. Dem ist nur mit einem Bypass beizukommen. So werden sie, während ich auf den Regionalkapillaren des badischen Bahnnetzes gleite, über einen Güterbahnhof an Offenburg vorbei wieder auf die Hauptstrecke geführt.
Deshalb kommen wir alle beinahe zeitgleich an. Verspätungen egalisieren. Wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass die schon voreilig am Freitag Angereisten, ebenfalls mit Oberleitungsschaden liegengeblieben sind, aber nur nahe Offenburg. Nach siebzig Minuten Halt auf freier Strecke schleppt sich dieser Zug, in Agonie verfallen, in den Bahnhof und wirft seinen menschlichen Inhalt samt Gepäck auf den Bahnsteig aus. Da die Bahn offensichtlich keine festgelegten Verfahren hat (man stelle sich das bei einer Fluglinie vor), wie man Reisenden umgeht, deren Weiterfahrt durch Widrigkeiten des Wetters oder eben der Technik unterbrochen wird, steht der so in seiner Zielstrebigkeit beschränkte Mensch, auf einem unwirtlichen Bahnhof wie Offenburg.
Ab nun muss er sich, wie Luca Brasi, in Problemlösung üben. Am Ende wird es eine Taxifahrt von Offenburg nach Freiburg werden – für ‘nen guten Vierteltausender. Auf den Kilometerpreis gerechnet wird sie die berühmte Rotterdamfahrt auf den zweiten Platz verdrängen. Aber natürlich fehlt ihr ein wenig die ikonische Kraft jener. In Freiburg besteht nun für uns ein wenig Handlungsstress, da die Gepäckfachsituation hier nicht auf dem Bochumschen Verknappungsprinizip beruht, ist das pünktliche Erreichen des Stadions weniger unter Zeitdruck stehend als wir beim Verlassen unserer Züge noch vermuteten.
Mit der Kraft des Deutschlandtickets verweigern wir uns eines bahnbetriebenen Zuges, trotz verlockender zwei Minuten Fahrtzeit, und nehmen die vertraute Straßenbahn. Mit ebenso vertrauter Zuverlässigkeit bringt sie uns zur Station “Stadion/Messe”. Das von uns angestrebte Mooswaldstadion ist noch immer die DFL-vorgeschriebenen anderthalb Kilometer entfernt.
Am Gästeeingang angekommen, hören wir die ersten Union-Gesänge, anscheinend ist zumindest das Torhüterteam schon beim Warmmachen. Nichtsdestotrotz füllen wir unsere entleerten Bierreservoirs auf. Kulinarisch werden auch vegane Empenadas verkostet, die zumindest dem Augenschein nach sehr lecker aussahen.Im Block positionieren wir uns vielleicht von der Fahnendichte her eine Spur zu mittig.
Nach den mittlerweile fast obligatorisch zu nennenden ersten zwölf Minuten Schweigen nehmen wir das Gelingen oder Nichtgelingen eines Neustart ohne internationale Belastungen nur stroboskopartig wahr. Das leidige, noch offene Wintertransferfenster verwirft das ohnehin nicht stabile Teamgefüge wohl sowieso noch eine Weile. Becker nicht im Kader, Khadira verletzt, Vogt neu, wohl auf dem Weg zum Abwehrchef – und wir singen einen neuen Chant auf die Melodie von Champs Elysee:
Oh Union Berlin Oh Union Berlin. Oh Union Berlin. Stürme vor, schieß ein Tor, Führe deinen Gegner vor. Kämpf’ und sieg’ für Rot und Weiß und unser Berlin 3x Oh Union Berlin. Oh Union Berlin. Die Fahne weht, die Kurve schreit, irgendwann ist es soweit, Deutscher Meister Fußballclub Union Berlin 3x
Trotz unserer besser werdenden Bemühungen bei diesem anspruchsvollen Chant spielt Union auf dem Platz nicht wirklich auf zum Tanz. All das kann wohl nicht verhehlen, dass es ein kleiner Neustart war – denn ist es doch der erste Auswärtspunkt seit August. Und ja, nach spielstatistischer Sichtweise unverdient, aber das erkennt man in der Tabelle nicht. Kommen wir nun zu etwas gänzlich anderem.
Unter wenig frohgestimmten Freiburgern, die plötzlich teilweise ihre Sympathie für den blauweißen Teil Berlins entdecken, fahren wir zurück in den belebteren Teil der Stadt. In der Markthalle unternehmen kulinarisch eine kleine Weltreise, da die Rückreise im Nightjet noch eine Weile vor uns liegt. Das ausgeschenkte Waldhaus kommt gustomäßig nicht an das Rothaus heran, ist aber auch nicht die von anderen Unionern vorhergesagte Enttäuschung. In einer kleiner Reminiszenz an unsere Europatour nehmen wir als Abschiedsgetränk einen Aperol Spritz.
Am Bahnhof sammeln wir unser Gepäck ein und lernen, dass man in Freiburg Skiuntensilien fast ungesichert in einem Fahrradparkhaus unterbringen kann, ohne dass sich die Besitzverhältnisse ändern. Der Nightjet ist weniger ausgelastet als es die DB-App vorgab, zumindest im Schlaf- und Liegewagenbereich.
So haben wir jeder ein ganzes Abteil für uns allein. Mit Sekt lassen wir die Rückfahrt beginnen. Dass ich noch immer nicht so ein Sekttrinker bin, zeigt sich in einer urplötzlich einsetzenden Kopfschwere. Liegewagen sei Dank kann man dem aber ziemlich komfortabel abhelfen. Eine Stunde vor Berlin klopft es und es wird ein kleines Frühstück mit Marillenkonfitüre gereicht. Ausgeschlafen, satt und noch immer mit einem Punkt sind wir von der weitesten Fahrt zurück.
* Badisches Wiegenlied auf Youtube