Die Nagelprobe oder mit dem RE durch NRW

Von Euphorie nach Napoli zu sprechen, wäre sicher zu groß gesprochen, aber das Unentschieden, welches sich wie ein Sieg anfühlte, war hinsichtlich der emotionalen Aufladung ganz sicher ein euphorisches. Ungezählte Endlichs stiegen in den neapolitanischen Nachthimmel und vermischten sich mit denen aus den Berliner Kneipen und Wohnzimmern. Der Fluch schien, wenn nicht gebrochen, so doch angeknackst zu sein.

Wenig Zeit blieb, das zu genießen, denn der Spielplan ist ein Predator und frisst und frisst… 

So fuhren wir an diesem Sonntag nach Napoli mit einem etwas kleineren Unbehagen nach Leverkusen. Wir würden sicher keiner Live-Aufführung eines Splattermovies beiwohnen.

Da die Bahn baut oder bauen lässt, zieht sich die Fahrt so sehr, dass man dem nun endlich einsetzenden Herbst beim Welkwerdenlassen der Blätter zusehen kann.

Erzählungen, dass die Hälfte der aus der Schönen Stadt anreisenden Gruppe verschlafen haben soll, sind natürlich völlig haltlos. Möglicherweise kann man die Ereignisse so auslegen, dass Teile vorher geplanter Verbindungen nicht erreicht wurden. Aber Verschlafen ist blanker Populismus. Dank oben angedeuteter Bauarbeiten und damit verbundener Streckenänderung sowie reduzierter Geschwindigkeiten ist die zuerst abgereiste Hälfte nicht wesentlich früher in Köln. Auf dem kurzen Weg über die Domplatte sind die Überreste des Beginns der fünften Jahreszeit nicht zu übersehen. Korpulente Herren mittleren Alters in Uniformen, die aussehen als müssten sie als Rheinbündler gegen die heran marschierenden Preußen noch eine Schützenlinie organisieren, finden zielstrebig ihren Weg hindurch all den Touristen, An- und Abreisenden, ihren Koffern, den Übriggebliebenen der gestrigen Feierei, den Obdachlosen, die hier ihr Auskommen suchen und den in dieser Menge frei umher schwebenden Stadtreinigern.

Die erfolglose Suche nach einem warmen Essen auf die Hand führt mich schlussendlich an einen Schrippenstand auf dem Bahnsteig für den RE1(!). Gemeinsam steigen wir in den Regionalexpress nach Irgendwo ein, um in Leverkusen-Mitte zeitig genug anzukommen.

Schritt für Schritt hin zur Bayarena wächst unser kleiner Mob zu einem Quintett an. Wusstet Ihr, dass man an einem Fußballstadion an ein kleines Häuschen herantreten und ein Ticket für das gleich stattfindende Spiel kaufen kann? Das Licht war übrigens schon an.

Banner aufhängen, mit Bier versorgen, alles geht Hand in Hand. Der musikalischen Spielpräparierung der sich im Stadion Aufenthaltenden wird hier recht früh mit Neil Diamond ein Mitsing-Highlight an die Hand gegeben. “…so good, so good.” Im Gästeblock wird nur sporadisch hörbar mitgesungen und offenkundig mit ironischem Ansatz.

Bis zur Verletzung von Leo um die 20. Minute herum konnte man sich der trügerischen Hoffnung hingeben, gegen diesen Bunch aus hochtalentierten Spielern und Jonathan Tah irgendwie gegenhalten zu können. Dann hatte einer eine Idee. Früher nannte man das eine Bogenlampe, für diese war Freddy 5 Zentimeter zu klein – 1:0. Anscheinend bedurfte es nur dieses Treffers, dass uns komplett die Ideen ausgingen. Aber es geht so in die Pause. Die Fünkchen Hoffnung glimmen noch. Vielleicht gelingt ein Glückstreffer und den verteidigen sie wie in Neapel bis zum Schluss. Vertrauen da holen, wo es herumliegt. Aber die Xabiisten lassen heute nix liegen.

Mit jedem Gegentreffer wird der ohnehin schon von Beginn an müde wirkende Block schlaffer. Als ob die Bayer-Dementoren nicht nur unseren Spielern, sondern uns gleich mit die Lebensenergie raubten.

Nach dem dritten Treffer deutete es sich schon ein wenig an und im Nachgang des Vierten wurde es zur Gewissheit. Die Szene stellte den organisierten Support ein – mit einem “Eisern Union” als Schlusspunkt. Möglicherweise kam es zu Hause unvermittelter an als im Stadion. Ich fand aber auch, dass der Weg von Unterstützung bis zur Einstellung derselben ein recht kurzer war, gemessen in diesem Spiel. Aber wie überall geschieht nichts im luftleeren Raum und da sind eben diese dreizehn sieglosen Spiele, die uns alle erschöpft haben. Kaum merklich am Anfang. Im Gegenteil. Salzburg/Nord war ärgerlich, weil es eben die Rabalisten waren. Aber wir haben für immer und ewig das Michelbehrens-Tor.

In Madrid waren wir doch so nah dran, an der Sensation, möglicherweise sogar an der anderen Seite der Spirale, die uns in den Abgrund zu ziehen scheint. So standen wir da – da in Leverkusen, wo nichts ist, was einen erfreuen würde und jede/r rang mit den Gefühlen. Die Mannschaft am Schluss nicht aufzumuntern, fiel mir schwer, auch weil es so ungewohnt war. Ich kenne die Beweggründe der Szene bzw. Alis nicht, es nicht zu tun und auch nichts zu sagen. Aber manchmal ist Stille lauter und wirkungsvoller als ein zur folkloristischen Unterhaltung aller Nicht-Unioner erstarrtes Ritual.

Wenn beim nächsten Spiel die Unterstützung wieder uns angemessen ist und am Ende die Mannschaft für ihr Bemühen beklatscht wird, egal wie das Ergebnis sein wird, dann möchte ich diese Stille als den nötigen Impuls verstehen, den wir alle, Mannschaft, Verein, Unioner auf den Rängen, in den Kneipen und zuhause brauchen, um diese sich so nicht angedeutet habende Saison zu bestehen. Es wird unsere Nagelprobe sein, zu zeigen, ob wir wirklich die besonderen Fans sind, für die wir uns halten. Dass nicht gepfiffen  wurde, war gut. Dass aber schon sehr viele vor dem Abpfiff gegangen sind, war dann aber auch dementsprechend schlecht.

Nichts hält uns länger als nötig an diesem Ort und die schon erwähnten Bauarbeiten mit ihren sich daraus ergebenden Verzögerungen beschleunigen den Auszug zusätzlich. Der Bahn gefiel es, den geplanten Zug ausfallen zu lassen. Wenn wir zeitig genug in Köln ankommen, können wir alle noch ein Trostbier trinken. Yeah. Während der Fahrt im überfüllten RE1 ergibt sich per Push-Notification die Gelegenheit, den zu nah am Abpfiff abfahrenden ICE nach Hamburg noch zu erreichen, mit dem wir wieder den geplanten Zug nach Berlin in Dortmund erreichen könnten. So werfen wir alles über den Haufen und lassen unsere drei anderen Begleiter ganz solidarisch allein im Zug zurück. Idealerweise kommt der RE1 nicht wie auf der Hinfahrt auf dem Bahnsteig Vier-Fünf, sondern am Gleis Neun an. Während der von uns zu erreichen gewünschte Zug auf Gleis drei vermutlich nicht länger auf uns zu warten gewillt sein wird als bis zum Ablauf der offiziellen Abfahrtszeit. Das ist eine gute Gelegenheit mal zu testen, ob sich meine morgendliche Rumjoggerei bezahlt macht. Neben den gesundheitlichen Aspekten natürlich. Macht sie. In drei Minuten sind wir elfengleich über den noch immer übervollen Kölner Hauptbahnhof gerannt, um mit dem Einfahren des Zuges anzukommen. Es sind die kleinen Dinge im Leben, die einen nicht komplett irre werden lassen, eine vor einem haltende Zugtür kann so ein kleines Ding sein.

Rein und zehn Schritte nach rechts und wir sind im Bordbistro. Beide finden wir Platz an einem Tisch, wo ein distinguierter älterer Herr in meinem Alter sitzt und Hugo. Es gibt Menschen, die haben das Herz auf dem rechten Fleck und gleichzeitig auf der Zunge. Bei Hugo liegt es zehn Zentimeter vor der Mundhöhle. Schneller als Picard “Energie” sagen kann, wissen wir, dass er zwei Bier bestellt und bezahlt (!!!), aber nur die Hälfte bekommen habe, in Ulm zugestiegen sei, eine minütlich im Wert steigende Zwei-Etagen-Eigentumswohnung mit Dachterrasse (Achtundsechzig Quadratmeter!) habe, da wo in Dortmund alle Fußballer wohnten, selbst solche, die niemals bei der Borussia gespielt haben und es auch nie werden … freiberuflicher ITler … zwei Bier … Phoenixsee… bezahlt, nicht bekommen. Als Hugo zur Toilette ist, unterhalten wir uns entspannt mit dem Hamburger, der sich bei allem Nicht-Interesse für Fußball, sich so interessiert zeigt, dass er uns nach Gegner, Spiel und Tabellenplatz fragt. Stich – Schmerz, Stich – Schmerz, Stich – Schmerz. Die in Echtzeit angezeigten Verspätungen lassen uns kühne Fahrtfortsetzungspläne schmieden.

Den angestrebten Zug in Dortmund erreichen wir nicht mehr. Wenn wir aber bis Hamburg durchführen, könnten wir dort den letzten Zug erwischen und wären ungefähr eine halbe Stunde früher in Berlin. Das ist sehr verlockend. Doch Hugos Einwände scheinen fundiert, denn sie werden durch die App-Infos bestätigt. Also einen neuen Plan geschmiedet. Nun doch, trotz des verpassten Zuges, in Dortmund aussteigen und mit dem RE1 zurück Richtung Köln. Diesmal in Hamm/Westf. raus. Eine dreiviertel Stunde haben wir, die unterversorgten Mägen mit Essbarem zu füllen. Es wird eine Döner-Bude werden, die sich am Rande einer gepflasterten Ödnis befindet. Aufgrund ihrer Bahnhofsnähe müsste sie irgendwas mit Europa im Namen tragen. Mit der Bestellung von zwei Dönern enttarnen wir uns wohl als Berliner, denn die Nachfrage lautet: Tasche? Gut, unsere rotweißen Accessoires könnten unterstützend geholfen haben. Jedenfalls entspinnt sich daraus ein Gespräch über Brot und Saucen.

Liebe NRWler, WAS STIMMT DENN MIT EUCH NICHT? Kein Fladenbrot, sondern ein eine Spur zu süßliches, brötchenähnliches Gebäck und als Saucenoption Tsatsiki… ehrlich, auch schlechter Geschmack muss Grenzen haben. Das Viertel eines Fladenbrotes, wahlweise Rind oder Hähnchenfleisch, extravagante geht wohl auch Lamm und als Saucen – Kräuter, Knoblauch, Scharf (mit stimmlosen R). Einfach und gut. Selbst für die Calzone wird einem hier Tsatsiki angeboten… Schnell zum Bahnhof zurück, wo wir feststellen, dass das Gebäude eigentlich ganz schick ist. Trotz der vielen Zugteilungen und -Zusammenführungen in Hamm sind wir selten bis nie über den unansehnlichen Bahnsteig hinausgekommen. 

Viele Unioner haben sich denselben Zugplan herausgesucht, das wird eine kuschelige Weiterfahrt nach Berlin werden. Den Versuch, erneut ins Bordbistro zu gelangen, geben wir auf halber Strecke auf. Zwischen zwei Waggons ist genug Platz für uns, unsere Standfestigkeit zu trainieren. In Hannover und Wolfsburg steigen überraschenderweise genügend Leute aus, so dass wir uns auch auf den Boden setzen können. Großen Respekt an die beiden Zugbegleiter, die ballerinengleich zwischen auf dem Boden sitzende, liegende Passagiere, Koffer und Taschen glitten und auf eine kleinliche Ticketkontrolle verzichten. Von einem Schlummer übermannt sind wir gefühlt weniger langwierig gegen dreiviertel zwei wieder in Berlin. Dank der immer noch sehr präsenten Müdigkeit ist das Spiel vergessen und wir verabschieden uns in die Nacht und den dazugehörigen Verkehr. Auf dem Nebengleis bei unserer Ankunft am Ostbahnhof stand übrigens ein RE1. In allem steckt vermutlich ein tieferer Sinn.

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