Wir fahren weit, wir fahr’n nach Kiel

oder „Tim Walter hätte geweint“

Reisender, kennst Du das Land, wo die Tüdelmasten melancholisch zwischen Wiesen und Feldern im Morgennebel vor sich hin sich dreh’n? Das ist Mecklenburg/Vorpommern, dahinter liegt Schleswig-Holstein, deren aus Windkraft stromerzeugende Maschinen stehen vorzugsweise offshore wie wir Ökofundis wissen. Wenn an dem norddeutschen Strand, wo Dein Schritt sich dem Meere nähert, keine Nordseewellen sich brechen, dann biste wahrscheinlich nahe Kiel.

Die Maßnahmen zum Erhalt und damit auch Verbesserung der Eisenbahninfrastruktur haben die Erfolgsreisenden unter uns auf den Individualverkehr ausweichen lassen. Lediglich zwei Bahnultras gingen das Wagnis ein, sich der Schiene anzuvertrauen.

Dadurch verringert sich das gemeinschaftliche Reiseerlebnis natürlich erheblich und kann eigentlich nur durch moderne Technik kompensiert werden. Chatgruppen sind unerlässlich und selbst die gemeinsame Playlist hat eine größere Bedeutung als säße man gemeinsam in einem Waggon zusammen und zöge sich die missbilligende Aufmerksamkeit der Nicht-Unioner zu.

Nichtsdestotrotz haben wir, unserem eigentlich Fanclubzweck, früh aufzustehen, folgend, einen zeitigen Treffpunkt gewählt. An sechs Tagen einer Woche wäre das auch eine weitsichtige Entscheidung gewesen. Aber am siebten Tage sollst du ruh’n und nicht nur etwas länger auf der eigenen Lagerstatt, sondern auch, von höher’n Ortes angewiesen, der LKW-Verkehr. So kamen wir recht gut durch – wie die AutofahrerInnen zu sagen pflegen.

Aus diesem Grund und dass wir die besten FahrerInnen hatten, lassen uns rechtzeitig bei Kiel-Karsten einlaufen, wo wir nicht nur unsere Autos abstellen können, sondern auch sehr herzlich mit Kaffee und Ditmarschener Pils begrüßt werden. Hier gibt es plötzlich und unerwartet, aber auch unverzüglich einen Ausbruch von grassierender Paronomasie.

Paronomasie? Watt’n dat?

Dagegen Ungeimpfte kann nachfolgendes passieren: Ein trinkfreudiger Matrose aus Kiel, der fiel, bei einem Spiel zu viel, trunken in einen Priel. Für die Reinigung mitten April nahm er viel Pril und zog im Oktober eine wieder weiße Hose aus dem Siel.

Impfen schützt! In diesem Fall kommt der Impfstoff recht günstig aus der regionalen und den Verein unterstützenden Brauerei. Vor dem Spiel zu essen, ist nur scheinbar eine alltägliche, spontan zu erledigende Aufgabe, denn wenn man mehr als einen Tisch braucht, dann ist die Vorbestellung stets eine gute Idee.

Besonders, wenn Stadionnähe ein wichtiges Kriterium ist. Das einzige Restaurant neben der Shell-Tankstelle, welches dieses Kriterium erfüllt, ist eines der griechischen Cuisine. Es gibt eine anlassbezogene Speisekarte, die die gewohnte Opulenz dargebotener Gerichte auf überschaubare drei mit der Variante überbacken oder nicht überbacken reduziert. Im Gegensatz zu anderen Städten in der Region, die sich gern als “Tor zur Welt” darstellen und damit eine Meeresnähe suggerieren, die es so gar nicht gibt, liegt Kiel tatsächlich am Meer.

Östlich vom Holstein-Stadion verlandet die Förde in einem Delta. Etwas nördlich ist die Einfahrt in den Nord-Ostsee-Kanal. In diesem Winkel liegt dieses alte Stadion, dem sie bedauerlicherweise jeden antiken Charme genommen haben. Von außen wirkt es wie eine wilde Mischung von Gewerbebauten, die versuchen, sich in hässlicher Belanglosigkeit zu überbieten. Innen entpuppt sich das alles als Stahlrohrtribünen. Potemkin hätte seine Freude. Einzig die einstige Haupttribüne ist noch ein wenig zu erkennen und lässt erahnen wie es möglicherweise 1950 aussah, als die Spieler von Union Oberschöneweide hier nicht zum Achtelfinalspiel gegen den HSV antraten. Denn das taten sie im Stadion Waldwiese, wo heute der VfB Kiel und die Frauen von Holstein Kiel auflaufen.

Und dafür wollt Ihr achtundfünfzig Euro haben? Jeder Schutzgeldeintreiber der Mafia hätte aus Scham und Ehrgefühl dafür seine Preise gesenkt. Trotz der zahlreich aufgefahrenen Präsenz von staatlichen Ordnungshütern ist der Einlass norddeutsch entspannt. Einige von uns müssen zwar partiell ihre Sticker opfern, aber das hat die braven Ordner offensichtlich in ihrer kontrollierenden Aufmerksamkeit leichtfertig nachlässig werden lassen. Anders ist die klitzekleine Sticker-Eskalation im Gästebereich nicht zu erklären. Bei unserer Szene war offensichtlich das Alles-muss-raus-Wochenende ausgerufen worden. Sehr schön geworden.

Gleich zu Beginn gab es von den Kielern eine ganz ansehnliche Choreo. Ein Steuermann hielt im blauen Nebel den Kurs. Das angekündigte den “Wind-aus-den-Segeln-nehmen” hat nicht so gut funktioniert. Nun, wir waren ja auch motorisiert angereist und bedankten uns mit roten Bengalos und einem frühen Tor.

Union hat jetzt auch einen Kinder-Riegel. Nur in der offensiven Ausprägung. „Who the fuck is Gosens?“ Nach dem ersten Tor ließ die Mannschaft einige Gelegenheiten, unsere misstrauischen Herzen zu beruhigen, aus. Dafür baute sie einige Wackler ein, damit wir in Rot-Weiß auf den Rängen nicht zu euphorisch werden. Selbst der unfehlbare Freddie, wenn auch mit Gegnerunterstützung, griff mal daneben.

Aufgrund dieser wackeligen Momente hätte der von uns allen hochgeschätzte #heultimi sicherlich wieder bittere Tränen der Verzweiflung ob der mangelnden Spielwilligkeit des Gegners vergossen. Allein das späte zweite Tor hätte ihm als Beweis gereicht. Marcel Rapp war da cineastischer unterwegs. Der falsche Film, in dem er sich wähnte, wird sicher kein Blockbuster à la irgendein Superheld aus dem Hause Marvel werden. Es ist eher ein früher Jarmusch-Film wie „Stranger than paradise“ oder „Down by Law“. Der alle so betrübende Terrorfußball wird bleiben, egal, welche Protagonisten ihn spielen sollen – hoffentlich. Dennoch waren die montäglichen Apologeten des schönen Spiels im Rasenfunk irritierenderweise des Lobes voll.

Wie viel Schrecken noch im Fußball von Union steckt, werden wir am Sonntag sehen. Vielleicht kommt ja wieder eine europagehypte Eintracht. Kurz nach dem erlösenden, sackzumachenden Tor durch ausgerechnet Rothe verlassen wir dieses Meisterstück des Gerüstbaus und streichen das klitzeklein von Sticker-Eskalation. Einige Leute aus der Szene müssen das Spiel nicht gesehen haben. Ich kenne Leute, die haben Unionzimmer, die weniger rotweiß sind.

Die angenehm große Gruppe trifft, bevor sie sich individuellen KFZs verteilen, sich noch mal im nunmehrigen Ausgangsbereich. Allenthalben ist die Erleichterung über den Auswärtssieg zu sehen. Bei einigen riss endlich die Niederlagenserie. Es muss hier für alle Zeit aber festgehalten werden, dass dieser Sieg an der Küste einzig und allein auf die magische Kraft von Ronnys Fischerhut geht.

Die Rückfahrt gestaltet sich wie die Hinfahrt: Playlist bestücken, PPs über WhatsApp ankündigen… etwas Bier… und am selben Tag wieder in Berlin sein. Den größten Dank an unsere FahrerInnen, die uns hervorragend durch die Gegend gebracht haben. Aber Zugfahrten sind dann doch gruppendynamischer.

So freuen wir uns alle auf die Fahrt nach Nirgendwo.

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